Hybrider 4. KoMet-Tag beschäftigte sich mit Urbaner Komplexität - Dokumentation der Vorträge und Zusammenfassung des Tages jetzt ONLINE
2022 Jahr richtete das Kompetenzfeld Metropolenforschung (KoMet) mit Unterstützung der Stiftung Mercator, der Emschergenossenschaft und der NRW.BANK den 4. KoMet-Tag zum Thema „Urbane Komplexität – Komplexitäts- und transformationswissenschaftliche Perspektiven auf die nachhaltige Stadtentwicklung“ aus.
Das PROGRAMM des KoMet-Tages können Sie hier einsehen und DOWNLOADEN.
HIER stellen wir Ihnen unsere Dokumentation mit allen Präsentationen des KoMet-Tages 2022 zur Verfügung.
Zudem steht Ihnen auch die Zusammenfassung der Vorträge und Diskussionen HIER zum Download bereit.
Städte sind komplexe adaptive Systeme. Konstitutives Element sind die vielfältigen Interaktionen heterogener Akteur:innen, deren Verhalten sich im Zeitverlauf verändert, weil sie auf das Agieren anderer Akteur:innen und an veränderte Umweltbedingungen reagieren. Weltweit werden Städte seit den 1980er Jahren aus komplexitätswissenschaftlicher Perspektive erforscht. Ziel ist es, ein besseres Verständnis davon zu erlangen, wie Städte entstehen, sich entwickeln, wachsen oder schrumpfen, was soziale und technische Innovationen in Städten fördert oder hemmt und welche Planungs- und Steuerungsinstrumente für deren Gestaltung vonnöten sind.
Vor dem Hintergrund des Primats der Nachhaltigkeit rückt besonders die Transformationsfähigkeit urbaner Räume verstärkt in den Fokus. Die damit verbundenen Herausforderungen sind „wicked problems“, das heißt, sie sind durch hohe Komplexität, Unsicherheit und die Divergenz von Werten und Zielvorstellungen geprägt. Deren Bearbeitung macht ein adäquates Instrumentarium zum Umgang mit Komplexität und Unsicherheit erforderlich. Darüber hinaus müssen divergierende Zielvorstellungen der Akteur:innen und daraus resultierende Konflikte adressiert werden. Partizipative Ansätze der Transformationsforschung leisten dazu einen wichtigen Beitrag.
Auftakt und Einführung Thorsten Wiechmann (TU DO/KoMet-Sprecher), Uli Paetzel (EGLV), Birgit Maria Roscyzk (NRW.BANK), Michael Roos (RUB/KoMet)
Thorsten Wiechmann, Uli Paetzel und Birgit Maria Roscyzk betonten in ihren Grußworten übereinstimmend, dass es in der Metropole Ruhr trotz eines hohen Transformationspotenzials nach wie vor an der konkreten Umsetzung der Nachhaltigkeitsvorhaben mangele. Daran anknüpfend leitete Michael Roos inhaltlich in die Konferenz ein. Er begann seine Einführung mit der These, dass der Angang der Transformation für die Metropole Ruhr von großer Bedeutung sei. Die Städte der Metropole Ruhr sähen sich durch den Strukturwandel, die fortschreitende Digitalisierung, den demographischen Wandel und vor allem den Klimawandel einem hohen Innovationsdruck ausgesetzt. Er beschrieb Städte als komplexe adaptive Systeme, deren transformative Entwicklungen kontext- sowie pfadabhängig seien und sich durch Nichtlinearität auszeichneten. In Städten würden zudem multiple Kausalitäten zusammenwirken – die entstehenden Interdependenzen machten die Planbarkeit zur Herausforderung. Die Konfrontation komplexer adaptiver Systeme mit den zu lösenden „wicked problems“, die von strukturellen Herausforderungen begleitet würden, legte Michael Roos exemplarisch anhand der Migrations- und Klimakrise dar. Weltweit würden Städte aus komplexitätswissenschaftlicher Perspektive seit den 1980er Jahren im Hinblick auf diese Eigenschaften erforscht. Im Rahmen des 4. KoMet-Tages stellte Michael Roos vor allem folgende Fragen zur Diskussion: Perspektive Wissenschaft: Was lehrt uns die Komplexitätstheorie Neues zum Umgang mit „wicked problems“ in den Städten? Perspektive Praxis:
▶ Was machen wir richtig und falsch im Ruhrgebiet?
▶ Müssen wir städtische Politik und Verwaltung anders denken?
▶ Perspektive Wissenschaft und Praxis: Wie müssen wir Forschung und Praxis neu/anders denken, um diese besser zusammenzubringen?
Städte als komplexe Systeme
Diego Rybski (Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie)
Diego Rybski beschrieb in seinem Vortrag Metropolen als komplexe Systeme, die durch emergente Eigenschaften charakterisiert seien, die wiederum durch die Interaktion unzähliger Entitäten fortlaufend entstünden. Diese Komplexität veranschaulichte Rybski mittels zweier Beispiele: Einerseits diskutierte er das Zusammenspiel von Stadtgrößenverteilung (Auerbach 1913, Zipf 1949), der Theorie der Zentralen Orte (Christaller 1933) und steigender Skalenerträge in ökonomischen Größen in Städten (Bettencourt 2007). Andererseits zeigte er die raumbezogene Komplexität urbaner Systeme mittels der der statistischen Physik entliehenen Perkolationstheorie auf. Zwischen zusammenhängenden und fragmentierten Strukturen gäbe es seiner Ansicht nach einen abrupten Übergang. In diesem Kontext zog Rybski dann auch die 2019 von Behnisch et al. durchgeführte Studie des deutschen Gebäudebestandes zur näheren Erläuterung heran, die die Überbauung quantifiziert: Mit 1,5km langen Schritten ließen sich bundesweit 99% aller Gebäude erreichen. Abschließend führte er aus, dass die „Points of Inaccessibility“, also die am weitesten von jedweden Gebäuden entfernten Punkte, in Deutschland überwiegend auf Truppenübungsplätzen zu finden seien.
Governance in komplexen adaptiven Systemen
Lasse Gerrits (Erasmus University Rotterdam)
In seinem Vortrag über Governance in und von komplexen adaptiven Systemen betonte Lasse Gerrits die starke Pfadabhängigkeit von Governance-Strukturen. Dies bedeute, dass es immer äußerst schwierig sein würde, bei sich schnell ändernden Umständen radikale Planungsentscheidungen zu treffen. Der Zufall spiele bei Pfadabhängigkeiten jedoch eine wichtige Rolle, da auf der Grundlage von Zufällen getroffene Entscheidungen auch dann noch Auswirkungen hätten, wenn diese Zufälle bereits vergessen worden seien. Dies habe – so Gerrits – zur Folge, dass bei städtischen Transformationen sowohl Multi- (gleiche Ausgangsbedingungen, unterschiedliche Ergebnisse) als auch Äquifinalitäten (vice versa) auftreten würden. Dies stelle Planer:innen vor erhebliche Schwierigkeiten, die Komplexität der Umstände zu bewältigen. In diesen komplexen Situationen würden die Planer:innen auf ihren eigenen Erfahrungsschatz zurückgreifen. Dabei würden verschiedene Heuristiken verwendet, um die eigene Rolle zu erkennen und entsprechend zu handeln. Lasse Gerrits führte aus, dass Erfahrungswissen und Heuristiken bisweilen wirkmächtiger seien als formale Planungsverfahren und rechtliche Strukturen.
Vergabe zweier KoMet-Förderpreise Uta Hohn (RUB/KoMet-Sprecherin), Jens Gurr (UDE/KoMet-Sprecher), Uli Paetzel (EGLV)
Auf dem diesjährigen KoMet-Tag wurde erstmals der KoMet-Förderpreis für herausragende Masterarbeiten und Dissertationsschriften, gefördert von der Emschergenossenschaft, durch die KoMet-Sprecher:innen Uta Hohn und Jens Gurr sowie den Vorstandvorsitzenden der Emschergenossenschaft Uli Paetzel vergeben. Prämiert wurde die Masterarbeit von Anna-Lena Bergmann (RUB) mit dem Titel „Essen 51. – das Quartier von morgen in der Stadt von heute. Die Entwicklung neuer Stadtquartiere und deren Einbettung in den Stadtraum“. Helen Wagner (UDE) wurde für ihre Dissertationsschrift zum Thema „Vergangenheit als Zukunft? Geschichtskultur als Feld von Zukunftshandeln zum Management strukturellen Wandels im Ruhrgebiet“ ausgezeichnet.
Technologische und soziale Innovationen – Grenzen und Komplementaritäten bei der nachhaltigen Transformation von Städten
1. Claudia Binder (École polytechnique fédérale de Lausanne - EPFL)
Claudia Binder stellte in ihrem Vortrag, der sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive den Grenzen und Komplementaritäten bei der nachhaltigen Transformation von Städten annäherte, die Frage nach Kipppunkten in sozio-technisch-ökologischen Systemen. Aus der Vergangenheit könne man ableiten, dass es keinen eindeutig zeitlich scharf messbaren Kipppunkt gäbe. Es handle sich eher um eine Kaskade von Kipppunkten, die – ausgelöst durch einen Trigger – den Prozess der Transformation auslösen könnten. Während in der Vergangenheit und in ökologischen Systemen Kipppunkte eher negativ betrachtet würden, stellte Binder die Frage in den Raum, inwiefern man „positive“ Kipppunkte initiieren oder unterstützen könnte. Sie stellte die These auf, dass drei Elemente von Relevanz seien: (i) Rahmenbedingungen, die die notwendige „Energie“ für den Wandel produzierten (z. B. politische Rahmenbedingungen, finanzielle Anreize); (ii) einen Trigger oder Auslöser (z. B. Fridays for Future, Kriege); und (iii) soziale Netzwerke, die Transformationen fördern oder behindern könnten. Am Beispiel der Energiewende leitete sie zur Relevanz technologischer Innovationen über, die gemeinsam mit sozialen Innovationen die Transformation unterstützten und förderten.
2. Markus Schläpfer (Columbia University, New York)
Markus Schläpfer betonte in seinem auf die technologische Perspektive fokussierten Vortrag die Bedeutung aggregierter Daten zur Komplexitätsmodellierung in Städten und führte als Beispiel die 15-Minuten-Stadt an, die u. a. in Paris auf der politisch-planerischen Agenda stehe. Laut aktueller Datenerhebungen sei diese, neben ihrer positiven Wirkung auf einzelne Quartiere, ein Segregationsrisikofaktor. Segregation jedoch widerspräche der eigentlichen Funktion der Stadt, Menschen miteinander zu verbinden. Um solchen versteckten Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, seien technologische Innovationen unerlässlich – auch wenn diese die Komplexität noch deutlich erhöhten.
PODIUMSDISKUSSION
Transformative Praxis – Diskussion aktueller Entwicklungen in der Region Ruhr
Simone Raskob (Stadt Essen, Geschäftsbereichsvorständin: Umwelt, Verkehr und Sport), Denes Kücük (Stadt Bochum, Chief Digital Officer), Volker Lindner (Stadt Herten, h2-Netzwerk Ruhr)
Simone Raskob, Denes Kücük und Volker Lindner diskutierten über die aktuelle transformative Praxis in der Region Ruhr. Klaus Kordowski führte zunächst jeweils Zwiegespräche mit den einzelnen Podiumsteilnehmer:innen. Simone Raskob wurde dabei nach dem Status Quo der Klimaneutralität in Essen und nach ihrer Einschätzung zur Steuerbarkeit des Verkehrssystems gefragt. Sie betonte, dass die Stadt Essen zwar auf einem guten Weg sei, die Klimaneutralität bis 2040 zu erreichen, jedoch seien die Auswirkungen der jetzigen „allgemeinen“ Energiekrise nicht abschätzbar. Zudem sei gerade für das Gelingen eines funktionierenden und attraktiven Verkehrssystems eine interkommunale Zusammenarbeit aller Nahverkehrsunternehmen im Ruhrgebiet zwingend notwendig.
Denes Kücük wurde von Klaus Kordowski gebeten, die Digitalisierungsstrategie sowie das Smart-City Konzept der Stadt Bochum näher zu erläutern: Das Bochumer Konzept – so führte er aus – umfasse ein gemeinsames Verständnis von Smart City und definiere fünf Leitthemen, in denen die Stadt Bochum eine stärkere Digitalisierung anstrebe. Diese Leitthemen seien Zukunftsfähige Infrastruktur, Intelligentes Stadtmanagement, Digitale Gesellschaft, Nachhaltige Mobilität & Umwelt und Innovative Wirtschaft & Wissenschaft. Das Besondere des Smart-City-Konzepts sei hierbei vor allem der partizipative Ansatz, der gemeinsam mit allen Partner:innen, den Bürger:innen und den städtischen Gremien kontinuierlich weiterentwickelt werde.
Klaus Kordowski fragte im letzten Zwiegespräch Volker Lindner nach seiner Einschätzung zum Ausbau der Wasserstoffwirtschaft im Ruhrgebiet. Dieser bekräftigte, dass der Sekundärenergieträger Wasserstoff einen wertvollen Beitrag zur Transformation leisten könne. Er stellte aber klar, dass im Ruhrgebiet bisher nur „brauner“ Wasserstoff verfügbar sei. Auch er mahnte genau wie Simone Raskob für die Verkehrsunternehmen an, dass eine Zusammenarbeit der Energieversorger des Ruhrgebiets für dessen Weiterentwicklung zentral sei.
Neue Perspektiven auf transformative Stadtforschung?! Ergebnisse des Nachwuchswissenschaftler:innen Workshops
Julia-Lena Reinermann, Bettina Pahlen, Anna Lea Eggert, Klaus Krumme (UDE/Urban Systems Group)
Julia Reinermann und Bettina Pahlen setzten den Fokus der Präsentation auf die globale Nord-Süd-Perspektive sowie die zum Einsatz kommenden Methoden hinsichtlich transformativer Forschung. Die Vortragenden thematisierten anschließend die Rolle der Wissenschaftler:innen als Change Agents in Forschungsprozessen. Die Nachwuchswissenschaftlerinnen verwiesen auf eine Dichotomie transformativer Forschung. Einerseits würden vorherrschende Machtstrukturen angefochten, um u.a. eine stärker emanzipatorische Forschung hervorbringen zu können, andererseits sei die Forschungsrichtung bisweilen stark durch westliche Denkweisen geprägt. Sie plädierten im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen für inklusive Methoden wie das Decision Theatre und betonten hohe Identifikationspotenziale mit agentenbasierter Modellierung. Wichtig und gleichzeitig herausfordernd sei die Gewährleistung der Interdisziplinarität des Teams. Bezogen auf das Wissenschaftssystem kritisierten Julia Reinermann und Bettina Pahlen persistente Strukturen, die das transformative Forschen nicht zu Beginn der akademischen Karriere ermöglichten (bspw. aufgrund finanzieller Restriktionen).
Transformative Research: How to do it and how to institutionalize it?
Derk Loorbach (Erasmus University Rotterdam)
Derk Loorbach plädierte dafür, auch an den Universitäten einen grundlegenden, systemischen Wandel hin zu mehr Interdisziplinarität, Experimentierkultur, Kollaboration und Reflexion anzustoßen. Nur so könne die Wissenschaft konstruktiv zum Nachhaltigkeitswandel beitragen. Der Ansatz der Transformationsforschung bzw. transformativen Forschung liefere hierfür einen geeigneten Rahmen, um die Ursprünge anhaltender gesellschaftlicher Probleme in Städten und Regionen zu identifizieren, die experimentelle Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis zu ermöglichen und so alternative und gewünschte Zukünfte experimentell zu erkunden und letztendlich auch praktisch umzusetzen.
Schlusswort
Michael Roos (RUB/KoMet)
Im Rahmen dieses KoMet-Tages seien Städte als komplexe adaptive Systeme definiert worden, so Michael Roos. Hiervon ausgehend habe die Tagung eine Reihe von Spannungsfeldern aufgezeigt: Selbstorganisation versus Planung, Wissenschaft versus Praxis und das Spannungsfeld zwischen verschiedenen Auffassungen von Wissenschaft. All das seien Elemente komplexer urbaner Systeme, die wiederum „wicked problems“ verschiedener Art verursachen können.
Michael Roos resümierte für die Vorträge des Tages, dass die heterogenen Akteur:innen in derart komplexen Systemen auf der einen Seite Experimentierfreude und klare Zielvisionen, auf der anderen Seite aber auch Wissen und Akzeptanz gegenüber der Nichtsteuerbarkeit komplexer adaptiver Systeme miteinander kombinieren müssen. Aus dieser Kompetenz und „Demut“ heraus könne man den „wicked problems“ in Städten adäquat begegnen. Die Komplexitätstheorie und die Transformationsforschung können hierfür wichtige Hilfsmittel sein, da sie Offenheit für Neues und Anpassungsfähigkeit als wissenschaftliche und politische Desiderata bereits mitdächten.